An anderer Stelle dieses Blogs habe ich bereits von der Wichtigkeit des Tagebuchs im Leben einer Person mit dissoziativer Identitätsstörung erwähnt. Wie Ihr wisst, habe ich lange mit der Diagnose der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung (Typ Borderline) gelebt. Dort lernte ich die sogenannte dialektisch behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan kennen. Linehan war selbst Borderline-Patientin und entwickelte diese Therapie. Ein wichtiger Teil der DBT ist der Umgang mit Anspannung. Ich habe das Gefühl, dass in der Psychiatrie jeder Anspannung ein wenig anders definiert. Für den einen bedeutet es eher Unruhe, für den anderen muskuläre Anspannung und für wiederum andere eine Art mentale Anspannung mit Gedanken an Selbstverletzung oder Suizid. Ich werde in der Folge unter Anspannung all diese Möglichkeiten zusammenfassen.

Ich habe während der DBT sehr viel über Skills (oder alternative Handlungen zu dysfunktionalem Verhalten) und Anspannung gelernt. Ich wende selbst täglich Skills an. Da sind das Schnüffeln an Ammoniak-Ampullen, Hirn-Flick-Flacks, Musikhören oder Lesen dabei, aber auch Reservemedikamente, die dann zum Einsatz kommen, wenn die Anspannung trotz Skills weiter steigt oder nicht abnimmt. Als DIS-Patientin habe ich aber nicht nur mit Anspannung zu kämpfen, sondern Stimmenhören und Flashbacks gehören auch dazu. Ich habe mir deshalb eine Methode überlegt, wie ich meinen Tag, der sehr viele Aspekte beinhaltet, dokumentiere. Mein Ziel ist es, Muster zu erkennen und zu merken, was mir in welchem Spannungszustand hilft und was nicht. Es gleicht einer kleinen Doktorarbeit, aber es ist die Mühe allemal Wert.
Mein Vorschlag ist die Spannungskurve nach Linehan ein wenig zu modifizieren und ein paar weitere Features einzubauen. Wie Ihr im Bild erkennen könnt, seht Ihr in der horizontalen Achse den Tagesverlauf (Uhrzeit) und in der Vertikalen die Anspannung in Prozent mit 100 gleichbedeutend mit maximaler Anspannung. In der klassischen DBT trägt man zu jeder Stunde ein, auf welchem Anspannungslevel man sich befindet. Da ich mich beim Schreiben dieses Artikels in der Klinik befand, konnte ich diese Evaluation etwas häufiger vornehmen. Ihr könnt erkennen, dass die blaue Linie die Anspannung und die schwarze Linie das Stimmenhören symbolisieren. Die farbigen Blitze stellen Suizidgedanken (pink) und den Drang zum selbstverletzendem Verhalten (orange) dar. In der Darstellung sind jeweils die angewendeten Skills zu bestimmten Zeitpunkten gelistet, sowie am oberen Rand der Persönlichkeitsanteil, welcher gerade im Vordergrund ist. In gelb ist die Medikamenteneinnahme aufgelistet. Das Ganze kann auch als monatlichen Verlauf dokumentiert werden:

Was nehme ich aus dieser ergänzten Spannungskurve mit:
- Ich sehe, ob die Skills, die ich angewendet habe bei einem bestimmten Anspannungsgrad bzw. in einem bestimmten Persönlichkeitsanteil gewirkt haben.
- Ich kann die Medikamentation überprüfen: Führt eine Einnahme zu einer Besserung oder ist das Medikament ungeeignet für den Spannungsabbau bzw. für das Mindern des Stimmenhörens.
- Kann ich einen zirkadianen Rhythmus der Anspannung bzw. des Stimmenhörens erkennen?
- Ich sehe direkt, welcher Persönlichkeitsanteil mit welcher Anspannung verbunden ist bzw. wie stark dieser Anteil mit Stimmen zu kämpfen hat.
- Ich habe eine Übersicht über die gefährlichen Situationen, in denen ich an Suizid oder selbstverletzendes Verhalten denke.
Ihr seht, man kann viel aus dieser Darstellung herauslesen. Macht man dies für ein paar Tage, kann man Muster erkennen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Zudem sieht man auch die Fortschritte im Verlauf – vielleicht braucht man weniger Medikamente oder hat sich trotz intensiver Suizidgedanken nichts angetan. Ihr seht man kann viel Positives daraus ablesen, erkennt aber gleichzeitig auch negative Trends frühzeitig. Ich hoffe, euch mit diesem Beispiel einen möglichen Weg gezeigt zu haben, wie man den Tag sinnvoll dokumentieren kann. Es ist Kleinstarbeit, aber ich bin überzeugt, dass sie sich lohnen wird.
–Lia
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