Als eifrige Leser meiner Beiträge zur dissoziativen Identitätsstörung (DIS) wisst ihr, dass dieses Krankheitsbild selten allein auftritt. Fast immer geht es mit der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) einher, welche durch das Wiedererleben der traumatischen Situationen (Flashbacks, Intrusionen), dem Vermeiden von Dingen, die einen an das Erlebnis erinnern und dem erhöhten Gefühl des Bedrohtseins charakterisiert ist. Auch die Nähe zu anderen Erkrankungen wie der Borderline Persönlichkeitsstörung (BPS), Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, Angststörungen oder Depressionen ist beschrieben. Seit dem ersten Januar 2022 ist allerdings auch eine neue, eher unbekannte Erkrankung im internationalen Diagnosesystem der WHO (ICD-11) aufgenommen – die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS).
Maercker et al. (2022) schätzen, dass rund 50% der Patienten in psychiatrischen Einrichtungen an dieser Erkrankung leiden. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich sehr hoch, da die Diagnose noch nicht lange gestellt wird und sowohl Ärzte als auch Psychologen erst entsprechende Erfahrungen sammeln müssen. Nun dürft ihr drei Mal raten: Auch bei mir wurde diese Diagnose gestellt – aus PTBS wurde kPTBS. Ihr fragt euch vielleicht, welchen Unterschied das macht. Ich kann euch sagen – einen Grossen!
Im Unterschied zu meiner vorgängigen Diagnose (klassisches PTBS), beinhaltet die komplexe posttraumatische Belastungsstörung eine Reihe weiterer Symptome, die zusätzlichen zu den oben erwähnten klassischen PTBS-Symptomen hinzukommen. Dazu gehören:
- Tiefgreifende und chronische Störungen der Selbstorganisation
- Emotionsdysregulation (Affektbetäubung oder Überreaktivität)
- Extremes konstant-negatives Selbstkonzept
- Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen oder aufrechtzuerhalten
Diese Symptome müssen gemäss Diagnosekriterien „zu einer substanziellen Funktionsbeeinträchtigung“ führen. Der Beginn der Symptome kann in jedem Alter auftreten. Wenn ihr mehr über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von kPTBS mit anderen „verwandten“ Krankheitsbildern wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung oder der dissoziativen Identitätsstörung wissen wollt, empfehle ich euch meinen schon etwas älteren Blogbeitrag „Borderline, PTBS, DIS oder mehrere zusammen?“. (siehe Ende des Beitrags). Heute werde ich deshalb nicht genauer darauf eingehen, sondern möchte euch zeigen, wie mich diese neue Diagnose im Alltag beschäftigt.

Einfluss auf die Therapie
Die Therapie der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung ähnelt in den Grundzügen der DIS-Therapie. Gemäss Guidelines sind eine trauma-fokussierte oder Mehrkomponententherapie hilfreich. Im Vergleich zur klassischen PTBS-Therapie wird aber eine höhere Sitzungs-Frequenz empfohlen (Guideline der International Society for Traumatic Stress Studies; ISTSS). Trotzdem konnten Maercker et al. (2022) zeigen, dass die Effektivität dieser Behandlung nicht optimal ist. Komplementiert wird die trauma-zentrierte Therapie mit Stresstoleranz- und Emotionsregulationstraining, wie es bei der ursprünglich für Borderline-Patienten konzipierten dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) der Fall ist. Für mich bedeutet das natürlich noch mehr Arbeit. Da aber bereits die Therapie der DIS Aspekte verschiedener Psychotherapieformen beinhaltet, war der Unterschied für mich nicht allzu gross. Jedoch muss festgehalten werden: es fehlen noch gute Studien, welche die Evidenz der unterschiedlichen Therapieformen evaluieren.
Meine Symptomatik
Selbstverständlich merke ich nicht immer „gleich viel“ dieser neuen Diagnose. Meist zeigen Persönlichkeitsanteile wie Arnold, Toby oder Bobby schwere Symptome, während ich (Chantal) nur sehr wenig davon abbekomme. Manchmal kann ich mich daher auch nicht daran erinnern. In der Folge werde ich euch einen Ausschnitt zeigen, den Bobby ins Tagebuch geschrieben hat. Ich glaube, dieser verdeutlicht meine Situation am besten:
„Ich bin’s, Bobby. Ich mache seit heute Morgen eine schwierige Zeit durch. Ich bin auf verlorenem Posten. Ich bin so verkorkst, verbraucht und wertlos. Ich habe das Gefühl, dass ich keinen Platz auf dieser Welt habe und dass ich an meiner Situation selbst schuld bin. Arnold ist keine Hilfe. Er ist wie ich in der Vergangenheit gefangen und empfindet das Leben als nicht lebenswert. Ich höre ihn reden. Er sagt wieder, dass ich ihn nach vorne lassen soll, damit er dem Ganzen ein Ende setzen kann. Chantal versucht mich zu überreden, dass sie die Kontrolle übernehmen kann, weil sie Angst hat, dass etwas passiert. Sie sagt, ich soll ein Temesta nehmen. Ich bin hin und her gerissen. Ich höre die Kleinen weinen. Ich fühle mich ihnen nicht mehr nah. Ich denke darüber nach, mir etwas anzutun. Irgendwie erscheint mir das Leben gerade sinnlos. Ich mag mich nicht bewegen. Ich bin reizüberflutet mit Szenen […] es ist nicht auszuhalten. Ich habe das Gefühl, dass der Körper nicht mir gehört. Ich bin fremdgesteuert. Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass mein Körper noch nie mir gehört hat. Als wäre ich in einer toten Hülle aus Fleisch gefangen […] Ich spüre mich nicht mehr. Es ist so, als wäre ich in einem schwerelosen Vakuum. Ich bin wie gelähmt, hilflos und kann deshalb nicht steuern, ob ich vorne bin oder nicht. Ich habe keinen Zugang, so, als wäre ich von bestimmten Teilen von mir dauerhaft getrennt. Ich fühle nichts mehr, meine Wahrnehmung ist dumpf, es dringt nichts mehr zu mir. Ich habe das Gefühl, dass ich «ausser mir» stehe. Chantal hat gesagt, dass ich das aufschreiben soll. Ich soll genau beschreiben, was ich denke und fühle. Es hat mich meine ganze Energie und Fähigkeiten gekostet. Aber Chantal befürchtet, dass es jetzt gerade sehr wichtig sei. Ansonsten muss ich in die Klinik. Jetzt bin ich extrem müde. Ich nehme jetzt ein Temesta.“
Wie ihr sehen könnt, kommen zu meinen DIS-Symptomen weitere Symptome hinzu wie beispielsweise das gestörte Selbstkonzept, dumpfe Emotionen und die gestörte Selbstorganisation. Dies macht es deutlich: Meine Nebendiagnose macht einen Unterschied. Denn auch diese zu therapieren ist wichtig und soll mir helfen, mich weiterhin im Alltag besser zurechtzufinden.
Beziehungsgestaltung
Dies ist ein besonders heikles Thema. So haben wir in der Therapie festgestellt, dass bei mir eine ambivalent-ängstliche Bindungsstörung besteht. Das heisst, dass ich einerseits das Bedürfnis habe, Beziehungen jeglicher Art einzugehen, jedoch gleichzeitig eine grosse Angst davor habe. Dass auch noch meine Ehe, die einzig wirkliche Beziehung, die ich jemals gehabt habe, vor 9 Monaten in die Brüche ging, ist natürlich auch nicht gerade förderlich. Ich tue mich allgemein sehr schwer, auf neue Menschen zuzugehen und sie an mich ranzulassen. Im Beruf, ich arbeite seit kurzer Zeit in der Forschung, ist das kein Problem. Allerdings sind enge, emotionale Beziehungen zurzeit unmöglich. Vor allem ich (Chantal) bin sehr abweisend und distanziert, was nicht selten zu Spannungen innerhalb meiner WG führt. Es fühlt sich an, als wäre ich zwischen zwei Polen hin und her gerissen und dass teilweise ein interner Machtkampf daraus wird.
Ihr seht, diese neue Diagnose der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung macht einen Unterschied. Ich erhoffe mir, dass die Forschung in der Zukunft weitere Fortschritte macht und eine Therapie (oder Kombination verschiedener Therapien) für dieses Krankheitsbild findet. In Anbetracht dessen, dass sehr viele Menschen davon betroffen sind, ist es also nicht nur für mich persönlich, sondern auch für andere essentiell.
–Chantal
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