Es ist mal wieder nach Mitternacht und ich liege hellwach im Bett der Klinik. Doch dieses Mal hat es einen Grund: ich befinde mich nämlich gerade mitten im Beruhigungsmittelentzug. Beruhigungsmittel brauche ich häufig, wenn die Anspannung sehr gross ist und/oder die Gefahr besteht, dass ich mir etwas antue. Ich kann mich noch gut an mein erstes Temesta (Lorazepam, ein Benzodiazepin) erinnern. Ich sass weinend in der Notfallpraxis beim Psychiater und erhielt dann ein Temesta. Ein paar Minuten später war ich ruhig, weinte nicht mehr und konnte die Lage nüchtern analysieren. Meine damalige Begleiterin sagt noch heute, wie eindrücklich diese Veränderung war.

Seither ist viel passiert. Ich habe unzählige Klinikaufenthalte mit etlichen Krisen hinter mir und bekam fast immer als Fix- oder Reservemedikation das Beruhigungsmittel Temesta. Lange reichte 1mg aus, um mich zu beruhigen oder zu schlafen. Bald einmal brauchte es die 2.5mg Tablette. Später wiederum waren mehrere 2.5mg Tabletten pro Tag nötig, damit die Anspannung nicht zu gross wurde. Wie ihr sehen könnt wurde die Dosis kontinuierlich gesteigert, um den gleichen Effekt zu erzielen. Dieses Phänomen nennt man Toleranzentwicklung und ist ein erstes Anzeichen einer Medikamentenabhängigkeit. Mir wurde dies erst letzten Freitag bewusst, als es mir sehr schlecht ging und ich trotz voller Ausschöpfung der Temesta-Reservemedikation immer noch sehr angespannt war.
Dies war ein Weckruf. Ich musste mir eingestehen, dass ich von Benzodiazepinen (umgangssprachlich „Benzos“) abhängig bin. Deshalb entschloss ich mich, mich selbst auf Entzug zu setzen. Der Benzo-Entzug ist ein schwieriger und langwieriger Prozess mit vielen Hürden. Ein sogenannter kalter Entzug (das Medikament wird von einem Moment auf den anderen abgesetzt) wird nicht empfohlen – ein warmer Entzug (schrittweise Reduktion) hingegen schon. Die unter euch, die mich gut kennen wissen, dass ich am liebsten einen kalten Entzug machen würde. Meine Motivation, aus dieser Abhängigkeit rauszukommen, ist gross.
Schnell musste ich aber feststellen, dass ein kalter Entzug nicht möglich ist. Nach dem Auslassen nur einer Dosis hatte ich ein starkes Verlangen nach der Substanz (genannt „Craving“), ein weiteres Abhängigkeitsmerkmal. Hinzu kamen weitere Entzugssymptome wie Kopf- und Gliederschmerzen, Stimmungsschwankungen, Suizidgedanken, Schwitzen, Herzrasen und eine Erhöhung des Blutdruckes. In Absprache mit meinen Ärzten entschloss ich mich für einen warmen Entzug. Momentan befinde ich mich bei 3 mal 1mg Temesta pro Tag. Ich fühle mich zwar immer noch ein wenig entzügig, aber dies ist noch lange nicht so ausgeprägt wie zu Beginn, als ich das Medikament ganz absetzen wollte. Mein nächstes Ziel ist eine Reduktion auf 2mg pro Tag.
Ihr fragt euch vielleicht, wieso ich ausgerechnet jetzt diesen Entzug machen will. Benzodiazepine sind dafür bekannt zahlreiche Nebenwirkungen zu haben. Dazu gehören auch Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten – Nebenwirkungen, die meinem zukünftigen Studium, das im August beginnt, im Weg stehen. Mein primäres Ziel ist es deshalb bis zum Studienstart keine Benzodiazepine mehr zu konsumieren. Meine Hoffnung ist, so mein Leistungsvermögen zu optimieren, damit ich das Studium erfolgreich bewältigen kann.
Ich muss sagen, dass bei mir noch immer eine Low-Dose-Abhängigkeit besteht, das heisst, ich konsumiere vergleichsweise wenig Benzodiazepine. Es gibt Patienten, die viel mehr und zum Teil mehrere Benzos (zB Valium) konsumieren. Solche High-Dose-Abhängigkeiten erfordern einen langen und oft komplizierten Entzug. So wie ich das sehe, habe ich gerade noch rechtzeitig reagiert, um eine High-Dose-Abhängigkeit zu verhindern. Aber wie es Xavier Naidoo so schön sang: „Dieser Weg wird kein leichter sein“. In diesem Sinne wünscht mir Glück, dass mir dieser Entzugsversuch glückt.
–Chantal
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