Borderline, PTBS, DIS oder mehrere zusammen?

„Das ist offensichtlich Borderline!“ Viele Jahre lang lebte ich mit dem Etikett eines Borderline-Patienten, nur weil ich häufige Stimmungsschwankungen hatte und mich selbst verletzte – ich wurde sogar mit einer „erweiterten Version“ von Borderline diagnostiziert, weil ich zusätzlich dissoziative Episoden und akustische Halluzinationen hatte. Aber irgendwie war ich mit der Diagnose nie wirklich zufrieden – ich hatte einige Symptome, die eigentlich nicht durch eine Borderline-Persönlichkeitsstörung erklärbar sind (z.B. Stimmen hören, Erinnerungslücken etc.). Nichtsdestotrotz gibt es große Ähnlichkeiten zwischen den so genannten komplexen Traumafolgestörungen (= Krankheiten, die aus einem Trauma entstehen können). Dazu gehören u.a. die bereits erwähnte Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), die dissoziative Identitätsstörung (DIS) und die (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), mit der sich der folgende Text befassen wird. Sie alle haben gemeinsam, dass der Ausgangspunkt der jeweiligen Störung in der Regel (mit Ausnahmen bei Borderline-Patienten) ein oder wiederholte traumatische Erlebnisse sind. In den letzten Jahren wurde bei mir jede dieser Folgeerscheinungen diagnostiziert – sogar mehrere zur gleichen Zeit. Vor kurzem erhielt ich nach einem langen diagnostischen Prozess endlich meine endgültige DIS-Diagnose. Ist diese Diagnose angemessener? Meiner Meinung nach: JA! Sie werden sehen, dass die BPDS-Diagnose nicht per se unsinnig war, sondern dass meine Symptome besser durch DIS (und PTBS) erklärt werden können. Wenn Ihr euch nicht an die klinischen Manifestationen in meinem speziellen Fall erinnern könnt – kein Problem. Lest einfach noch einmal meinen früheren Blogbeitrag (siehe „Wie wir feststellten, dass ich möglicherweise an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leide“).

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist „eine psychische Störung, die sich auf die Art und Weise auswirkt, wie man über sich selbst und andere denkt und fühlt, was zu Problemen im Alltagsleben führt. Dazu gehören Probleme mit dem Selbstbild (Instabilität des Selbstbildes), Schwierigkeiten bei der Steuerung von Emotionen und Verhalten (Affektinstabilität) und ein Muster instabiler Beziehungen.“ (Quelle: Mayo Clinic; Jan Gysi in „Diagnostik von Traumafolgestörungen“) Sie ist (oft, aber nicht zwingend!) durch Selbstverletzung, starke Stimmungsschwankungen und extremes Schwarz-Weiß-Denken gekennzeichnet. Häufig beruht diese Störung auf einem oder mehreren traumatischen Erlebnissen (wiederum NICHT zwingend, nur bei 80 % der Patienten, Sack et al. 2013), und BPS-Patienten können weitere Symptome wie dissoziative Episoden aufweisen, die sich z. B. durch einen Tunnelblick und unbewusste Selbstverletzungen äußern. Auch Komorbiditäten wie Essstörungen, Depressionen oder Angststörungen sind nicht selten. Am charakteristischsten für die BPD ist jedoch wohl, dass die Patienten Schwierigkeiten haben, Beziehungen zu führen oder stetig eine Ausbildung zu absolvieren – oft wechseln sie regelmäßig ihren Ausbildungsplatz. Bis heute ist die BPS ein weithin stigmatisiertes Etikett, das sich hartnäckig hält. In den letzten Jahren wurden in der Therapie große Fortschritte erzielt. Eine zentrale Rolle spielt insbesondere die bereits in den 1980er Jahren entwickelte Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT; nach Linehan). Die Patienten lernen, verschiedene sogenannte „Skills“ anzuwenden (z.B. Liegestütze, Gewürzlutscher) und Achtsamkeit zu üben (z.B. mit progressiver Muskelentspannung oder Bodyscan in der Gegenwart zu bleiben). Skills sind Aktivitäten/Handlungen/Gedanken, die die Patienten aus ihren Spannungszuständen herausführen und so extreme Emotionen kontrollierbar machen. Darüber hinaus ermöglicht die DBT den Patienten, sich mit ihren vergangenen traumatischen Erfahrungen sowie mit dem, was in der Gegenwart geschieht, auseinanderzusetzen (daher dialektisch). Ich persönlich habe insgesamt 3 verschiedene DBT-Therapien durchlaufen (insgesamt fast 10 Monate), in denen ich verschiedene Fähigkeiten entwickelt habe. Zum Beispiel rieche ich Ammoniak oder esse Zitronensäure bei starken Spannungszuständen (starken Emotionen). Aber ich muss gestehen, dass die Therapien nicht den gewünschten Erfolg gebracht haben. Ich möchte hier auch anmerken, dass ich nicht das klassische BPD-Bild erfülle. Ich bin seit 10 (!) Jahren in einer stabilen Beziehung und habe mich ständig weitergebildet bis hin zum Bachelor-Abschluss. Außerdem leide ich unter zusätzlichen Symptomen wie auditiven Halluzinationen und Gedächtnislücken, die sich nur bedingt mit BPD erklären lassen. Ich brauche also eine andere Diagnose, aber welche?

In ICD-11 (Anmerkungen):

In ICD-11 wird die BPS als Persönlichkeitsstörung mit „Borderline“-Muster definiert
„Borderline“-Muster: Trauma-Erfahrung nicht zwingend, keine Trauma-Trias (Intrusionen, Hyperarousal und posttraumatisches Vermeidungsverhalten), Verlassenheitsangst, Idealisierung von Beziehungen, Suizidalität, veränderte Selbsteinschätzung

Im Jahr 2021 erhielt ich die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS) – und ich war überhaupt nicht überrascht! Laut der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) ist die dissoziative Identitätsstörung (DIS) „eine Störung, die durch das Vorhandensein von zwei oder mehr Identitäten mit unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Persönlichkeitsmustern gekennzeichnet ist, die wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person übernehmen; dies geht mit einer retrospektiven Lücke in der Erinnerung an wichtige persönliche Informationen einher, die weit über die normale Vergesslichkeit hinausgeht.“ (Anmerkung: Die Definition wird in der ICD-11, die noch nicht veröffentlicht ist, deutlicher sein) Weitere Merkmale sind akustische Halluzinationen, Flashbacks oder andere tranceartige Verhaltensweisen (für weitere Einzelheiten siehe „Be Many! Mein Leben mit dissoziativer Identitätsstörung – Beginn einer überraschenden Reise!“). Ähnlich (aber diesmal zwingend) wie die BPD beruht die DID auf wiederholten traumatischen Erfahrungen seit der frühen Kindheit. Bislang gibt es kein Medikament, das Heilung verspricht. Zentral in der Therapie der DID bleibt die Psychotherapie (und hier insbesondere die traumaspezifische Ego-State-Therapie, mehr dazu in anderen Beiträgen). Ihr Ziel ist es, die verschiedenen Ich-Zustände zu einem inneren Team zu formen oder zumindest ihre Koexistenz zu ermöglichen. In meinem Fall äußerte sich die DIS durch folgende Symptome: Erinnerungslücken, akustische Halluzinationen (Stimmen, Gedanken, die nicht von mir sind), unbewusste Selbstverletzungen, Flashbacks/Nachtträume, plötzliche unangemessene Gefühle/Gedanken, die nicht zu mir gehören, Reisen an einen Ort, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen bin, und Verlust der Körper(-funktions)kontrolle. Was denken Sie – ist die DID-Diagnose angemessener als BPD? Oder wie gut spiegelt die Diagnose meine Symptome wider?

Einige von Ihnen werden sagen, dass die DIS-Diagnose nicht passt, weil man sich diese Wechsel zwischen verschiedenen Ich-Zuständen nur schwer vorstellen kann. Vielleicht wird man mir sogar diese Symptome absprechen und mir Schauspielerei unterstellen – Vorurteile, die immer noch weit verbreitet sind. Jedenfalls gibt es eine weitere psychische Erkrankung, die ebenfalls zu den komplexen Traumafolgestörungen gehört: die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (cPTSD). Neben den für die PTBS typischen Symptomen wie Flashbacks, Vermeidungsverhalten und Hypervigilanz (d.h. erhöhte Wachsamkeit etc.) ist die cPTSD gekennzeichnet durch Veränderungen im emotionalen Verhalten und Erleben (Affektdysregulation) sowie ein gestörtes Selbstkonzept, das Gefühl, anderen unterlegen zu sein oder die Unfähigkeit, enge Beziehungen einzugehen. Die zugrundeliegenden traumatischen Erfahrungen sind in der Regel langwierige oder wiederholte Ereignisse, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen konnte. Dies ist einer der Hauptunterschiede zur „klassischen“ PTBS, bei der meist ein einzelnes Ereignis ursächlich ist. Bei mir wurde im Januar 2021 zum ersten Mal eine cPTSD diagnostiziert, da ich die meisten Kriterien (wiederholtes Trauma, Affektdysregulation, Hyperarousal oder Minderwertigkeitsgefühl) erfüllte. Aber wie bei den beiden anderen Erkrankungen gibt es keine 100%ige Überschneidung der Kriterien mit meinen Symptomen (Achtung: das ist fast NIE der Fall!). Zur Veranschaulichung der Hauptmerkmale der einzelnen Diagnosen siehe die folgende Tabelle:

Ihr merkt schon – der Diagnoseprozess ist gar nicht so einfach! Es gibt viele Überschneidungen und meist tritt ein Symptom bei allen 3 Krankheiten auf. Was eine Unterscheidung zwischen ihnen ermöglicht, ist normalerweise das Ausmaß, in dem die Symptome auftreten. So stehen bei der BPS die mangelnde Emotionskontrolle, Impulsivität oder die Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, im Vordergrund, während bei der DIS Halluzinationen, Gedächtnislücken und unterschiedliche Ich-Zustände (mit unterschiedlichen Verhaltensweisen, Emotionen usw.) im Mittelpunkt stehen. Die CPTSD wiederum äußert sich in erster Linie durch das Vorhandensein klassischer PTBS-Symptome (Flashbacks, Vermeidungsverhalten, Hyperarousal usw.), hat aber einen breiteren Fokus auf das Beziehungsverhalten des Patienten. Die Unterscheidung zwischen diesen drei Zuständen ist wichtig, weil das therapeutische Management (ambulant, stationär) unterschiedlich ist. Während sich bei der BPS die DBT-Therapie durchgesetzt hat, steht bei der DIS und der cPTSD die traumafokussierte Therapie im Vordergrund. Allen gemeinsam ist, dass die medikamentöse Therapie nur bedingt Linderung bringt. Im Moment bin ich mit DIS etikettiert, und aus professioneller Sicht ist das für mich in Ordnung. DIS und insbesondere BPS gehen oft mit einer Stigmatisierung einher. Ich werde später noch ausführlicher auf die scheinbaren Vorurteile (oder Mythen) gegenüber DID-Patienten eingehen. Bis dahin – „Seid viele!“ .

–Emily

In English:
https://be-many.medium.com/the-transitions-of-trauma-related-diseases-are-fluent-similarities-and-differences-e056afe5bc7f

Ein Traum wird wahr

In diesem Blog versuche ich stets, die positiven, sowie negativen Seiten der dissoziativen Identitätsstörung aufzuzeigen. Klar, während gut 15 Jahren haben die negativen Aspekte dominiert, doch es gab immer wieder Lichtblicke. So konnte ich das Gymnasium abschliessen, erreichte einen Bachelorabschluss mit 24 Jahren und heiratete. Diese positiven Ereignisse und Lebensabschnitte hielten mich quasi über Wasser…

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In der Therapie der dissoziativen Identiätsstörung (DIS) ist eine der ersten Methoden herauszufinden, welches der sichere Ort eines jeden Anteils ist. Das kann ein realer Ort sein – muss aber nicht. Fiktive Orte sind durchaus häufig. Ich persönlich stelle mir nur reale Orte vor, weil ich mich mental besser dorthin begeben kann. Wichtig ist, dass…

Gastbeitrag: Beziehung mit einer DIS-Patientin

Hallo zusammen. Ich darf einen Gast-Blogbeitrag schreiben bei «Be Many.» Kurz für alle, die mich nicht kennen. Mein Name ist Karina, bin 25 Jahre alt und in einer Beziehung mit Chantal. Ich verwende die Pronomen Sie und keine. Ich bin eine Frau jedoch bin ich intergeschlechtlich. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung), PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) und rezidivierende Depressionen sind…

3 Kommentare zu „Borderline, PTBS, DIS oder mehrere zusammen?

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