Es ist 2 Uhr morgens und ich bin hellwach. Ich leide unter Albträumen, gefolgt von Panikattacken und einem Chaos von inneren Stimmen, die mich am Schlafen hindern. Ich habe bereits mehrere mentale Übungen zur „Beruhigung“ ausprobiert – leider ohne Erfolg. Was sollte ich tun? Es ist typisch für Patienten, die an einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS, syn: multiple Persönlichkeitsstörung) leiden, dass solche Symptome auftreten. Es gibt bereits viele Techniken, um den Schlaf zu verbessern: die Implementierung von täglichen Schlafroutinen (z.B. vor dem Schlafengehen einen Tee trinken oder ein Bad nehmen), die Vorbereitung der Ego-States auf den Schlaf oder eine gemütliche Schlafzimmergestaltung (z.B. durch Entfernen von potentiellen Triggern). (Boon et al. 2011) Ich habe für mich entdeckt, dass diese Strategien nicht ausreichen. Eine Möglichkeit ist einfach – sich zu bewegen! Die Fähigkeiten, die ich durch meine verhaltenstherapeutischen Erfahrungen (meist dialektisch-behaviorale Therapie nach Linehan) als Borderline-Patientin erworben habe, sind meist in irgendeiner Form körperbezogen. Dazu gehört auch die Bewegung. Ich habe festgestellt, dass mir dies hilft, in der Gegenwart zu bleiben und den Körper zu spüren“, was besonders beim Wiedererleben traumatischer Erinnerungen (z.B. Flashbacks) wichtig ist. Aus diesem Grund beschloss ich, zur Vorbeugung von Schlaflosigkeit mehr Bewegung in meinen Alltag einzubauen. Das führt zu meinen (inzwischen geliebten!) nächtlichen (oder tagsüber stattfindenden) Laufeinheiten, die ich nicht missen möchte. Jedes Mal, wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich an die frische Luft und mache eine kleine Joggingrunde.

Dabei höre ich ABBA (das ist mein Coming-Out – ich bin ein großer Fan!), Wincent Weiss oder manchmal auch ACDC (das scheint besonders Toby zu gefallen ;-)) und genieße die Ruhe, die mich umgibt – ausnahmsweise stören keine E-Bike-Fahrer! Ich muss gestehen, ich bin nicht die größte Sängerin auf Erden, aber in diesen Momenten allein in der Natur kann ich mich nicht zurückhalten. Das übertönt die inneren Stimmen und lenkt von schlechten Gefühlen oder Gedanken ab – was für eine Erleichterung! Es hat auch etwas Abenteuerliches (mein Mann findet es manchmal auch ein bisschen gefährlich), mitten in der Nacht ohne Licht zum Fluss zu gehen und Tiere zu beobachten, die man bei Tageslicht nicht sehen würde (weil es zu viele Menschen gibt).
Alan Silitoe, Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
„Der Langstreckenlauf am frühen Morgen lässt mich daran denken, dass jeder Lauf wie dieser ein Leben ist – ein kleines Leben, ich weiß – aber ein Leben, das so voll von Elend und Glück und Dingen ist, die sich ereignen, wie man es selbst nie wirklich erreichen kann.“
Aber was ist der wissenschaftliche Beweis für die Wirkung von körperlicher Aktivität auf den Schlaf? Intuitiv würde man erwarten, dass der Zusammenhang positiv ist – je höher die körperliche Aktivität, desto besser der Schlaf. Mehrere Studien zeigten inkonsistente (unklare) Ergebnisse, so dass eine Meta-Analyse (gepoolte Analyse mehrerer Einzelstudien) notwendig ist, um eine Aussage über die Wirkung von Bewegung auf den Schlaf zu treffen. Eine solche Studie legt nahe, dass „Bewegung ausgewählte Schlafergebnisse (z. B. Gesamtschlaf, Global Score, subjektiver Schlaf) in der eingeschlossenen Stichprobe von Erwachsenen verbessert.“ (Kelley et al. 2017) Allerdings ist es wichtig zu unterscheiden, welche Art von Bewegung gemeint ist: Positive Effekte auf die Schlafqualität wurden vor allem bei moderaten Aktivitäten (z.B. Radfahren, Laufen) beobachtet, während niedrigere Aktivitäten (z.B. Yoga) keinen Einfluss hatten. Dieser Zusammenhang konnte für den Effekt von körperlicher Bewegung auf den Schweregrad der Schlaflosigkeit nicht beobachtet werden. (Rubio-Arias et al. 2017) Eine andere Studie zeigte jedoch, dass „die Einschlaflatenz, die Gesamtschlafzeit und die SE (=Schlafeffizienz) nach starker körperlicher Betätigung, die ≤ 1 h vor dem Zubettgehen endet, beeinträchtigt sein könnten“. Außerdem zeigten dieselben Forscher, dass Laufen mit einem geringeren Aufwachen nach dem Einschlafen verbunden war (im Vergleich zum Radfahren). (Stutz et al. 2019) Bis heute ist körperliche Aktivität tendenziell vorteilhaft für die Schlafqualität. Dies wurde auch in einer spezifischen psychiatrischen Patientenpopulation gezeigt. (Lederman et al. 2019) Es gibt keine Forschung, die sich speziell mit der Wirkung von körperlicher Aktivität auf den Schlaf bei DIS-Patienten beschäftigt. Im Vergleich zu anderen (psychiatrischen) Erkrankungen ist die DIS eine komplexe Traumafolgestörung mit verschiedenen klinischen Manifestationen, die besonders schwierig zu behandeln sind. Zum Beispiel sind die inneren Stimmen bei DIS-Patienten, anders als bei Patienten mit Schizophrenie, nicht psychotischer Natur und können daher selten mit antipsychotischen Medikamenten behandelt werden. Derzeit gibt es keine spezifischen Medikamente für dissoziative Stimmen – oft wird die Pharmakotherapie noch mit Antipsychotika versucht (auch ich nehme zur Zeit ein Antipsychotikum). Meiner Erfahrung nach ist körperliche Aktivität (egal zu welcher Tageszeit) sehr wahrscheinlich förderlich für die Verbesserung der Schlafqualität. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass vor allem Aktivitäten im Freien mit einer Symptomreduktion und damit weniger Schlafstörungen verbunden sind. Ich schließe aber nicht aus, dass auch Indoor-Aktivitäten positive Effekte haben können – ich müsste es mal ausprobieren!
Es scheint, dass meine Bewältigungsstrategie – Laufen mitten in der Nacht – tendenziell eine gute Idee ist – zumindest aus wissenschaftlicher Sicht. Natürlich gibt es keine direkten Beweise für Auswirkungen des Laufens nur während der Nacht auf die Schlafqualität. Nach der Literaturrecherche für diesen Artikel werde ich diese nächtlichen Ausflüge beibehalten und versuchen, mehr körperliche Aktivität in den Alltag (tagsüber) einzubauen. Das hängt natürlich davon ab, in welchem Ich-Zustand ich mich im jeweiligen Moment befinde. Bis bald!
- Lia
In English:
https://be-many.medium.com/exercise-a-coping-mechanism-to-deal-with-insomnia-838460294fd
- Alle
- Depression und Angststörungen
- Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
- Persönlichkeitsstörungen
- Psychische Erkrankungen
- Psychotische Störungen
- Public Health
- Sonstiges
- Suchterkrankungen
Ein Traum wird wahr
In diesem Blog versuche ich stets, die positiven, sowie negativen Seiten der dissoziativen Identitätsstörung aufzuzeigen. Klar, während gut 15 Jahren haben die negativen Aspekte dominiert, doch es gab immer wieder Lichtblicke. So konnte ich das Gymnasium abschliessen, erreichte einen Bachelorabschluss mit 24 Jahren und heiratete. Diese positiven Ereignisse und Lebensabschnitte hielten mich quasi über Wasser…
Der sichere Ort für meine WG
In der Therapie der dissoziativen Identiätsstörung (DIS) ist eine der ersten Methoden herauszufinden, welches der sichere Ort eines jeden Anteils ist. Das kann ein realer Ort sein – muss aber nicht. Fiktive Orte sind durchaus häufig. Ich persönlich stelle mir nur reale Orte vor, weil ich mich mental besser dorthin begeben kann. Wichtig ist, dass…
Gastbeitrag: Beziehung mit einer DIS-Patientin
Hallo zusammen. Ich darf einen Gast-Blogbeitrag schreiben bei «Be Many.» Kurz für alle, die mich nicht kennen. Mein Name ist Karina, bin 25 Jahre alt und in einer Beziehung mit Chantal. Ich verwende die Pronomen Sie und keine. Ich bin eine Frau jedoch bin ich intergeschlechtlich. ADHS (Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung), PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) und rezidivierende Depressionen sind…